Der Schulzwang wird fallen wie die Berliner Mauer
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Offener Brief des Netzwerks Bildungsfreiheit anlässlich der geplanten Änderung des Schulgesetzes

In NRW soll das Schulgesetz in Kürze geändert werden. Dabei ist unter anderem vorgesehen die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht mittels entwürdigender Zwangsmaßnahmen im Wortlaut des Gesetzes festzuschreiben. Wir halten derartige Maßnahmen für einen eindeutigen Verstoss gegen elementare Menschenrechte und den geplanten Gesetzesentwurf für nicht kompatibel mit europäischen Rechtsnormen. Das Netzwerk Bildungsfreiheit hat aus diesem Grund in einem offenen Brief an alle NRW Parlamentarier Stellung genommen.
Hier der Wortlaut:

Sehr geehrte/er Frau/Herr....,
 
vor der parlamentarischen Verabschiedung des neuen Schulgesetzes in Nordrhein-Westfalen möchten wir nachdrücklich auf unsere Einwände hinweisen.
Wir, das ist mittlerweile ein Netzwerk von Interessengruppen, Vereinen und Wissenschaftlern, das z.B. zu unserem Bericht (
in deutscher Sprache oder in englischer Sprache) an den UN-Sonderbeauftragten für das Recht auf Bildung Prof. Dr. Muñoz von nationalen und internationalen Organisationen wie „European Forum for Freedom in Education“ (effe), die „National Coalition“ (NC) und der „Stiftung Netzwerk Hochbegabung“ unterstützt wird und fast tagtäglich größer wird. Herr Muñoz schrieb uns kürzlich, dass er in seinen abschließenden Berichten zu seinem Besuch in Deutschland u.a. definitiv das Thema 'Homeschooling' (Home Education) in Deutschland adressieren werde.

Das neue Schulgesetz allgemein

Die meisten Änderungen im Schulgesetz begrüßen wir als richtige und lange überfällige Schritte zu einer modernen Bildungsgesetzgebung. Umso verwunderlicher finden wir die Änderungen, die Kinder und Eltern in unserem Land weiter entmündigen:
Nachrangigkeit des Elternwillens bei der Wahl der weiterführenden Schule (der Wille des Kindes wird schon gar nicht betrachtet).
Forcierung des Schulzwangs statt seine Eliminierung. Eltern sollen nun ohne pädagogisches Ermessen von Behörden gezwungen werden können, ihre Kinder gegebenenfalls auch gegen deren Wohl und Willen in die Schule zu zwingen.
Es geht uns hier wohlgemerkt nicht darum, die allgemeine Schulpflicht zur Disposition zu stellen, sondern um die - international gesehen - unmögliche deutsche Praxis des Zwangs zum Besuch einer Präsenzschule. In ungeahnt vielen Fällen kommen Kinder mit ihren Ortsschulen oder umgekehrt Ortsschulen mit Kindern nicht zurecht und ein Fernunterricht oder ein individueller Unterricht ohne Schulbesuch („Home Education“, „Homeschooling“) würde diesen Kindern wesentlich besser gerecht. Bitte lesen Sie den Fall „Timo G.“ im o.g. Rapport an den UN-Sondergesandten, um genau zu verstehen, was wir meinen.
 
Unsere Kinder gehören uns nicht, weder den Eltern, noch der Gesellschaft im Ganzen, und ganz bestimmt nicht der Staatsmacht, an deren Gesetzgebung wir gebunden sind. Stattdessen müssen Kinder gehört werden. Kinder werden hierzulande als Objekte gesehen, die „beschult“ werden müssen. Die dringend gebotene Subjektstellung des Kindes macht es erforderlich, Kinder mit zunehmendem Alter, also beispielsweise bei der Wahl der weiterführenden Schule wenigstens mitbestimmen und ihren gesetzlichen Vertretern freie Hand zu lassen, diese Rechte durchzusetzen.
 
Das neue Schulgesetz konkret
 
Wir haben erhebliche Einwände gegen o.g. Teil des Gesetzentwurfs, weil er dem Recht auf individuell angemessene Bildung ohne notwendige Ausnahmen vom regulären Schulbesuch für verschiedenste Kinder nicht gerecht wird.
 
Unsere Einwände sind zunächst grundsätzlicher Art, da verstanden werden muss, dass das Recht auf Bildung nicht ausschließlich mit dem Besuch einer Schule gleichzusetzen ist. So werden weltweit z.B. Fernschulen für alle Kinder zugelassen. Warum werden bei uns nicht einmal deutsche Fernschulen – z.B. die „Deutsche Fernschule“(df) oder das „Institut für Lernsysteme“(ILS) – für hier lebende Kinder zugelassen, wenn alle unsere Nachbarländer sogar ausländische Fernschulen akzeptieren? Aber auch Präsenzschulen und Schulgründungen in privater Trägerschaft haben es in unserem Land zu schwer und die Gesetze tragen den Chancen und Möglichkeiten vieler Ansätze in keiner Weise Rechnung. Im Gegenteil: Die Rechnung bleibt zu oft den Gründungsinitiativen überlassen. Das in der UN-Kinderrechtskonvention Art. 29(2) festgelegte Recht „natürlicher...Personen..., Bildungseinrichtungen zu gründen und zu führen,...“ sehen wir durch viel zu stark reglementierende Privatschulgesetze äußerst eingeschränkt. Eine Umsetzung dieses Rechts ist den Gründungsinitiativen ohne Inanspruchnahme juristischer und wirtschaftlicher Hilfe unmöglich. Die Schulpolitik will sich zwar immer weniger durch eine systematische Verhinderung von Eigenverantwortlichkeit und Subsidiarität auszeichnen, bleibt aber weiterhin ausschließlich im Präsenzschulbereich verhaftet.
 
Artikel 26(3) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll“ steht im Widerspruch zur gegenwärtigen Praxis der Schulbehörden in NRW gegenüber denjenigen Familien, die außerschulisches Lernen aus verschiedensten Gründen dem Wohl ihrer Kinder als zuträglicher empfinden (Wir sprechen hier nicht von Schulschwänzern!). Die gängige Praxis, dem staatlichen Anspruch an die Kinder gegenüber dem Elternrecht Vorrang zu geben, halten wir für menschenrechtlich untragbar und politisch gefährlich. Die zunehmende Entmündigung von engagierten Eltern, die eine ganz wesentliche Basis jeder Gesellschaft darstellen, ist nicht nur für den Erfolg von Bildung auf lange Sicht unhaltbar.
 
Vor diesem Hintergrund wird insbesondere der neu vorgeschlagene Absatz 5 in §41 des Entwurfs zum geplanten Schulgesetzes als absolute Zumutung empfunden. Derartige Regelungen sollte in unserer Demokratie keinen Platz mehr finden! In keinem anderen Staat der Welt wird undifferenzierter Schulzwang wie in deutscher Manier praktiziert. International und pädagogisch gesehen wird Schulzwang zumindest für bildungsnahe Familien ohnehin als Paradoxon empfunden.
 
Bitte beachten Sie hier besonders Artikel 28(1a) der Kinderrechtskonvention, die in den offiziellen Sprachen der UN eine Bildungs- bzw. Unterrichtspflicht fordert und nicht von der „Pflicht zum Besuch einer Grundschule“ spricht, wie irrtümlich im deutschen Text der Konvention übersetzt wurde. In quasi allen europäischen Verfassungen und Schulgesetzen wird der Bildungsfreiheit für Familien Rechnung getragen (vgl. Schulgesetzsynopse unter
http://www.homeschooling.de/gesetze.htm). Überall werden auch ganz private Alternativen zur Schule zugelassen. Es muss nicht gleich so freiheitlich wie in Finnland, Frankreich, Dänemark, Norwegen, Irland oder Belgien zugehen. Eine Anlehnung an ein Minimum an Freiheitsgraden wie in §41 des tschechischen Bildungsgesetzes (engl. unter http://www.msmt.cz/files/doc/HCzakon561popravach.doc), wo gewünschter Hausunterricht zumindest geregelt wird, wäre bereits ein Fortschritt. Nicht alle Eltern können sich den Umzug in ein anderes Land leisten, um damit in den vollen Genuss von Bildungsfreiheit zu gelangen und ihren Kindern die von ihnen gewünschte Bildungsform zuteil werden zu lassen.
 
Das neue Schulgesetz differenziert auch nicht genügend! Sonderfälle wie Hoch-, Sonder- und Minderbegabungen, Behinderungen, Nichteignung für den Schulbesuch, Teilleistungsstörungen oder psychische und psychosomatische Probleme in Zusammenhang mit dem Schulbesuch, weil z.B. Kleinwüchsigkeit oder andere, nicht akzeptierte Andersartigkeiten zu Ausgrenzung und Mobbing führen, werden pauschal oder gar nicht berücksichtigt. Außerdem werden immer noch sämtliche Alternativen zum Schulbesuch ('Home Education') - im Gegensatz zum europäischen Kontext - tabuisiert. Mittlerweile haben auch die letzten unserer europäischen Nachbarn die Notwendigkeit bestimmter Freiheiten erkannt und legislativ geregelt (für Homeschooling z.B. Russland 1991, Norwegen 1999, Tschechien 2004 und Holland 2006).
Nur bei uns ist Schulbesuch um jeden Preis immer noch das Maß aller Dinge, wenn es eigentlich um Bildung gehen soll. Erschütternde Berichte zeugen davon, wie manche Kinder darunter unvorstellbar zu leiden haben.
 
Schulzwang
 
Vielleicht können Sie mit dem (historischen) Begriff „Schulzwang“ nicht direkt etwas anfangen? Im Reichsschulpflichtgesetz von 1938 heißt es in §12: „Kinder und Jugendliche, welche die Pflicht zum Besuch der Volks- oder Berufsschule nicht erfüllen, werden der Schule zwangsweise zugeführt. Hierbei kann die Hilfe der Polizei in Anspruch genommen werden.“ Dieser sogenannte Schulzwang wurde mehr oder weniger wörtlich in die Schulgesetze der Bundesländer übernommen. Schul(besuchs)zwang bedeutet, dass die Polizei gegebenenfalls ein 8-jähriges Kind (Belege liegen vor) gegen seinen und seiner Eltern Willen, notfalls unter Anwendung körperlicher Gewalt aus dem Elternhaus in eine Schule verbringen darf.
Sind Sie der Meinung, dass derartiger und wirklich undifferenzierter Zwang in irgendeinem Fall tatsächlich mehr nutzt als schadet bzw. dem Wohle des Kindes mehr dienen könnte, als dass dabei Schaden angerichtet wird? Sind Sie der Meinung, dass der Schulzwang im Einklang mit dem verfassungsmäßig garantierten Recht auf körperliche Unversehrtheit und der Pflicht zu Gewaltfreiheit in der Erziehung (BGB §1631(2)) steht? Glauben Sie, dass Schulzwang dazu beitragen könnte, die Lernfreude und Lust auf Schule bei den betroffenen Kindern wieder zu erwecken?
Wir jedenfalls glauben nicht daran, und im Ausland ist man weithin entsetzt über die in Deutschland seit dem Reichsschulpflichtgesetz von 1938 erhalten gebliebene Zwangsmaßnahmen gegen Kinder, Jugendliche und deren Eltern! Besonders von Betroffenen und Geflohenen werden Zwangsmaßnahmen als ungeheuerliche Gewaltakte empfunden, die gleich mehrere unserer Grundrechte verletzen.
Das neue Schulgesetz von Nordrhein-Westfalen, das laut Herrn Hanke (MdL) den Anspruch erhebt, das „modernste und demokratischste Bildungsgesetz“ der deutschen Geschichte zu werden, verschärft und legitimiert z.B. im geplanten Absatz 5 von §41 den angesprochenen Zwang scheinbar nebensächlich und pädagogisch völlig undifferenziert.
 
Der undifferenzierte Zwang zum Besuch einer staatlich nicht nur beaufsichtigten, sondern immer auch staatlich organisierten Schule in Deutschland führte bisher u.a. zu folgenden Entwicklungen:
Mittlerweile liegen acht (8) deutsche Fälle von 'Home Education' zur anliegenden Entscheidung vor dem EGMR in Straßburg.
Eine umfassende Fallstudiensammlung von Schulgründern, Wissenschaftlern und vielen verzweifelten Eltern wurde und wird dem UN-Bildungskommissar Prof. Dr. Muñoz übergeben, der mehrfach zusagte, auf diese Berichte einzugehen.
Immer mehr auch deutsche Wissenschaftler für Psychosomatik/Psychiatrie, Psychologie, Lernforschung, Pädagogik und Erziehungswissenschaften, Vertreter für Hochbegabung, Mobilität oder Migration aber auch Verfassungsrechtler sowie sogar Richter und ausländische Botschafter melden sich mit dem Ruf nach Bildungsfreiheit in Deutschland zu Wort.
Den relativ kleinen, staatlich zugelassenen Privatschulanteil von knapp 6% halten wir für überreglementiert und außerdem für die meisten Familien räumlich und finanziell nicht erreichbar.
 
Man kann nicht Eltern mit Buß- und Zwangsgeldern bestrafen oder gar zu Emigration zwingen, wenn sie im Einzelfall ihr Kind vor seelischem Schaden bewahren möchten, oder wenn sie sich aufgrund der Individualität oder wegen einer bestimmten Beeinträchtigung des Kindes um eine speziell angepasste, außerschulische Bildungssituation bemühen.
 
 Wir fordern eine Schulpflicht, die nicht auf den undifferenzierten Zwang zum Besuch einer Schule reduziert wird, sondern sich als eine international angepasste Bildungspflicht versteht.
 
Unsere Überzeugung ist:
Milde Zwangsmaßnahmen gegen sogenannte „Schulzschwänzer“ (d.h. verbindlich an einer Schule angemeldete Schüler, die der Schule perspektivlos fernbleiben), sind völlig ausreichend und würden vermutlich relativ schnell zu Erfolg führen, wenn sie pädagogisch sinnvoll ausgestaltet wären. 
Zwangsgelder oder Zwangshaft gegen die gesetzlichen Vertreter von Kindern und Jugendlichen (die z.B. bei den Schulbehörden als „Frei-Schüler“ gemeldet und beaufsichtigt sein könnten), die eine bewusste Entscheidung getroffen haben, alternative und individuelle Bildungswege wahrzunehmen, sind unsinnig. Sie stellen zudem, wie in deutschen Bundesländern angewandt, mittlerweile eine weltweite Einzigartigkeit dar.
Zwangszuführungen sind pädagogisch gesehen in keinem Fall dienlich; diese Praxis sollte sofort legislativ unterbunden werden. Die Praxis der Zwangszuführung muss zum Wohl von Kindern und Jugendlichen durch spezielle, pädagogisch sinnvolle Angebote ersetzt werden.
Sorgerechtsentzug hat nichts mit der Durchsetzung von Bildungsansprüchen zu tun. Die Anordnung eines Sorgerechtsentzuges und auch der teilweise Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechtes allein um einen Schulbesuch durchzusetzen, ist absolut entwürdigend und verletzt das Wohl von Kindern und deren Eltern. Diese Praxis ist durch den Vertrauensbruch, den sie hervorruft, außerdem staatsschädigend. Sie sollte daher sofort verboten werden.
Wir haben in diesen Tagen die wohl einmalige Chance, eine umfassende Bildungsreform auf den Weg zu bringen. Nordrhein-Westfalen könnte mit der geplanten Neufassung seines Schulgesetzes einen wichtigen Meilenstein setzen und damit Vorreiter für eine in der Tat „modernste und demokratischste Bildungsgesetzgebung“ werden, die es seit 1919 in unserer Republik gegeben hat. Dazu müssen wir Deutsche durchaus einmal über unseren eigenen Schatten springen. Wer jetzt Bildungsfreiheit bremst, macht sich an unseren zukünftigen Generationen durch die Verschwendung ihrer Potenziale schuldig.
Konstruktive Wege gibt es viele – man muss sie nur wagen!
 
Mit freundlichem Gruß,
Jan Edel
 
Offener Brief im Namen des Netzwerks Bildungsfreiheit
(
www.netzwerk-bildungsfreiheit.de)